Der „Turngau“ hat in Bonn ausgedient

Umbenennung in Verband – Geschichtliche Belastung – „Einer musste den Anfang machen“
von Hansjürgen Melzer

Bonn. Die Bonner Turner gehen neue Wege. Seit wenigen Tagen sind die 39.500 Mitglieder aus 111 Vereinen in Bonn, dem Rhein-Sieg-Kreis und Teilen des Kreises Euskirchen nicht mehr in einem Gau, sondern in einem Verband organisiert. Die Umbenennung in Turnverband Rhein-Sieg, Bonn e.V. wurde von der Mitgliederversammlung in Troisdorf zusammen mit einer neuen Satzung einstimmig verabschiedet.
„Der Begriff Gau ist durch den Nationalsozialismus geschichtlich belastet“, begründete der Kreisvorsitzende Egbert Friedel die Initiative, die im Rheinischen Turnerbund (RTB) bisher einmalig ist. Neben den Bonnern, dem zweitgrößten Kreis hinter Köln, gibt es dort 18 Gaue. „Irgendeiner musste ja den Anfang machen“; meinte Friedel. „Vielleicht haben es viele andere nur noch nicht laut ausgesprochen.“
Die Überlegungen sind zwar nicht neu, den letzten Anstoß gaben aber Erfahrungen mit Anwohnern der neuen Geschäftsstelle in der Bad Godesberger Karl-Finkelnburg-Straße. Gnädige Passanten quittierten das Türschild „Turngau“ noch mit einem Kopfschütteln, andere schimpften über die „ewig gestrigen“, wieder andere klingelten bei der Geschäftsführerin Annette Vogel und machten ihrem Unmut Luft. „Diese Reaktionen haben uns in unserer Vorstellung bestätigt“, sagt Friedel. Als der Umbenennungsvorschlag dann auch noch bei den älteren Mitgliedern im Kreis Zuspruch fand, sahen sich Friedel und seine Vorstandskollegen endgültig auf dem richtigen Weg. „In anderen Sportarten gibt es ja auch Kreise“, kommentierte Kreispressewartin Christa Pleiß (Troisdorf). Ruth Theisen, Frauenwartin im Kreis und 2. Vorsitzende im Godesberger TV, hofft, dass „weitere Verbände nachziehen werden“, muss aber zugeben, „Dass sie sich nur schwer an den neuen Namen gewöhnen kann.
Beim Deutschen Turnerbund (DTB) und beim Rheinischen Turnerbund (RTB) überraschte die Kunde aus Bonn. „Wenn sich die Initiative nicht in der Umtaufung erschöpft, sondern auch in praktische Arbeit umgesetzt wird, könnte man den Namen als Symbol verstehen“, bemühte sich DTB-Vorstandsmitglied Hanna Stobbe (Mannheim) um eine positive Sichtweise. Nicht ohne einzuschränken, dass der Begriff „Gau“ uralt sei. „Der stammt ja fast schon vom Affenmenschen aus der Steinzeithöhle.“ Auch im deutschen Turnen sei die Bezeichnung seit Mitte des letzten Jahrhunderts fest verankert. Ausnahmen sind zum Beispiel Niedersachsen und Westfalen, wo es traditionell Turnkreise gibt. Stobbe vermutet, dass die Ursache der Bonner Initiative möglicherweise noch tiefer liegen. „Der rheinische Mensch ist vielleicht besonders empfindlich. Man sollte solche regionalen Besonderheiten akzeptieren.“
Für Heinz Poick, den Geschäftsführer des Rheinischen Turnerbundes, ist die Umbenennung „ungewöhnlich“. positiv bewertet er , dass „sich die Bonner in Zeiten wachsender Konkurrenz durch andere Sportarten in ihrer Namensgebung vorhandenen Organisationen wie den Stadtsportbünden oder -verbänden anschließen.“ Eine geschichtliche Belastung der Bezeichnung „Gau“ sieht er allerdings nicht. „Das ist absoluter Unsinn.“
Deutschlands berühmtester Turner, der frühere Reck-Weltmeister Eberhard Gienger (Tübingen), ist da ähnlicher Meinung. „ich finde die Bezeichnung Gau nicht schlimm. Es kommt doch wohl mehr auf das Verhalten als auf den Namen an.“

erschienen im Generalzeiger vom 26.7.1995